Eigene Entscheidungen zu treffen, ist kompliziert

Aktualisiert am 5. August 2022

Bisher habe ich sehr vieles einfach so bekommen. Ich musste es vorher gar nicht gewollt haben. Es kam einfach. Der Job nach dem Studium. Geld im Sparschwein. Ich musste mich nicht groß anstrengen. Habe aber auch nicht geprüft, ob ich es wirklich will. Es war meist der einfache Weg.
Mutti und Papa schicken mich aufs Gymnasium. Okay. Dann zieh ich das bis zum Ende durch. Nach dem Abi studiert man. Okay. Dann suche ich mir einen Studienplatz. Ich lerne meinen jetzigen Mann im Mensa-Club kennen, es macht wusch, wir ziehen zusammen, wir bleiben zusammen.

Warum den komplizierten Weg gehen? Warum darüber nachdenken, was man wirklich will? Dann könnte ich ja feststellen, dass ich mich eigentlich anders entscheiden müsste. Ich könnte feststellen, dass ich mich in der Vergangenheit falsch entschieden habe. Dass ich das alles eigentlich gar nicht wollte.

«Entscheiden» beinhaltet «scheiden». Sich von etwas scheiden, trennen. Entscheiden heißt auch immer Nein sagen zu etwas. Aber auch ja zu etwas anderem. Nein zum schwierigen, unangenehmen Weg. Ja zum einfachen Weg. Warum auch nicht? Aber gehe ich mir damit selbst aus dem Weg? Verdränge ich dadurch meine eigenen Wünsche? Höre ich damit nur auf die Vorstellungen der anderen? Möchte ich das wirklich? Bleibe ich dadurch immer Kind, weil ich selten selbst für mich entscheide?

Der Masse folgen. Ohne nachzudenken. Geschehen im Dritten Reich. Geschieht auch jetzt noch in der breiten Masse der Bevölkerung. Wir folgen dem Fernsehprogramm, den Streaming-Diensten, den Social Medias, den Nachrichten. Wer prüft das Gelesene, Gehörte noch, wenn die breite Masse dahintersteht? Wer sucht nach gegenteiligen Meinungen? Wer geht in sich und prüft, wie er:sie dazu wirklich steht?

Vor der letzten Bundestagswahl beantwortete ich die Fragen des Wahl-O-Mat. Ergebnis: Die größte Übereinstimmung mit den großen Parteien des Bundestages fand sich gar nicht (mehr) bei den Grünen, wie ich vermutet hatte. Es war Die Linke. Und beim Lesen ihrer Antworten musste ich feststellen: stimmt offensichtlich. Dabei haben die Linken in der breiten Öffentlichkeit immer etwas Negatives an sich. Ich kam vorher gar nicht auf den Gedanken, sie zu wählen. Getan habe ich es diesmal dann doch nicht. Es gab eine andere Partei, mit der ich noch mehr übereinstimmte. Zwar klein und für den Ausgang der Wahl unbedeutend. Für mein Gewissen aber entscheidend. Denn ich habe mich mit den Inhalten befasst und eine bewusste Entscheidung getroffen.

Zurück zum einfachen vs. komplizierten Weg. Kann der einfache Weg glücklich machen? Ist der komplizierte Weg wirklich kompliziert? Oder fühlt er sich nur so an, weil ich mich mehr mit mir selbst beschäftige? Weil ich mir überlege, was ich wirklich will? Weil ich meine Entscheidungen überdenke. Prüfe, ob sie wirklich meine sind? Und wird der komplizierte Weg irgendwann zum einfachen Weg? Wenn ich nur noch meinen Wünschen folge. Wenn ich ich bin. Wenn meine Entscheidungen eins mit mir sind?

Die Energie geht dorthin, wo die Aufmerksamkeit ist. Oder umgekehrt? Egal. Es macht am Ende keinen Unterschied, oder?

Aufmerksamkeit → Energie. Gerade als Scanner / Multitalent / … muss nur irgendwo etwas meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und meine Energie folgt ihr. Das kann ein lautes Hupen auf der Straße sein oder eine spannende Überschrift in der Zeitung. Die Entscheidung treffe ich allerdings nicht bewusst.

Energie → Aufmerksamkeit. Hier entscheide ich mich bewusst, wohin ich meine Energie und folglich meine Aufmerksamkeit hinlenke. Ich möchte mehr Sport treiben, also suche ich mir einen Kurs, eine App, gehe laufen, etc. Ich möchte mich gesünder ernähren, also suche ich entsprechende Rezepte und achte darauf, wie mein Körper auf welche Lebensmittel reagiert.

Wenn ich mir nun also den scheinbar einfachen Weg genauer ansehe, bin ich sehr oft im «unbewussten» Fall «Aufmerksamkeit → Energie». Ich folge den äußeren Einflüssen, ohne groß darüber nachzudenken. Getrieben vom Außen. Abgelenkt vom Innen. Mit jedem Plop stelle ich mich aufrecht wie ein Erdmännchen hin und schaue, wo es herkommt. Was ich gerade dachte, verdrängt. Vielleicht ploppt es später noch einmal auf. Für den Moment ist es aber verloren. Und so vergeht Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Gefangen im Außen.

Die Erkenntnis allein, dass es auch andersherum funktioniert, dass man sich bewusst entscheiden kann, wohin die eigene Aufmerksamkeit fließt, ist ein erster Anstoß, sich zu lösen. Doch meist reicht dies nicht aus, sich aus dem Außen zu lösen und jeden Tag aufs Neue bewusste Entscheidungen zu treffen. Ganz im Gegenteil steht erstmal alles auf dem Kopf. Welche meiner Entscheidungen war wirklich meine? Wer bin ich wirklich? Wer möchte ich sein? Mache ich dies oder jenes, weil ich es möchte oder hat mich jemand anderes dazu gebracht? Kann ich mir selbst noch trauen?

Es folgt ein steiniger Weg mit Aufs und Abs und Kurven. Mit selbstbewussten eigenen Entscheidungen. Mit Rückfällen wie bei jeder Diät, weil es doch einfacher ist, und der nachfolgenden Erkenntnis, dass es einen nicht weitergebracht hat. Mit jedem Tag und jeder Entscheidung lernt man sich selbst kennen.

Wo ich mich gerade befinde? Irgendwo auf dem steinigen Weg. Nicht ganz am Anfang, aber auch noch nicht am Ende. Vielleicht kurz vor einer Kurve auf halber Höhe vom Berg. Ob es der richtige Berg ist? Mal sehen. Falls nicht, werde ich ihn irgendwann finden.

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